Kritische Theorie aus Paris und Frankfurt. Zur Frage der Vernunftkritik

Kritische Theorie aus Paris und Frankfurt. Zur Frage der Vernunftkritik

Veranstalter
Institut für Philosophie, Universität Hildesheim (Universität Hildesheim)
Ausrichter
Universität Hildesheim
PLZ
31141
Ort
Hildesheim
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
04.10.2024 - 06.10.2024
Deadline
18.03.2024
Von
Leonhard Geffke, Technische Universität Berlin; Niccolò Izzi, Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin; Jonas Schmitt, Deutsches Seminar, Universität Tübingen; Niklas Steinkamp, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum; Mirko Stieber, Institut Philosophie, Universität Hildesheim

In den 1980er Jahren stellte Jürgen Habermas zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen der Kritischen Theorie und dem zeitgenössischen französischen Denken fest. Die "radikale Vernunftkritik" beider erschien ihm als Gefährdung des "Projekts der Moderne".

Die vom 4. bis zum 6. Oktober 2024 an der Universität Hildesheim stattfindende Tagung möchte die Beziehungen, Differenzen wie Gemeinsamkeiten der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts und der kritischen Theorie neu untersuchen.

Kritische Theorie aus Paris und Frankfurt. Zur Frage der Vernunftkritik

In den 1980er Jahren stellte Jürgen Habermas in seiner Vorlesungsreihe »Der philosophische Diskurs der Moderne« zahlreiche inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen der Kritischen Theorie und dem zeitgenössischen französischen Denken fest. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno beschrieben in ihrem Werk »Dialektik der Aufklärung« die tiefgreifende Verstrickung der Aufklärung mit Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt, die aus einer instrumentellen, das heißt einer auf Naturbeherrschung basierenden Rationalität erwächst. Ebenso beabsichtigten beispielsweise Jacques Derridas Dekonstruktion tradierter Dualismen, Michel Foucaults Machtanalytik oder Cornelius Castoriadis' Begriff des Imaginären eine grundsätzliche Kritik moderner Rationalität. Als wichtigen Vorläufer für das sogenannte poststrukturalistische Denken führt Habermas zudem die vom Surrealismus beeinflusste Philosophie des Heterogenen Georges Batailles an, die gegen die positivistisch verengten Imperative des Nützlichen, der Normalität und der Nüchternheit die ekstatischen Kräfte des Rausches, des Traumes und des Trieblebens überhaupt hervorhob.

Erblickte Habermas in dieser »radikalen Vernunftkritik« Frankfurter und Pariser Provenienz jedoch überwiegend eine Gefährdung für das »Projekt der Moderne« durch einen Rückfall in den Irrationalismus, so verliert seine immer schon umstrittene Kritik weiter an Evidenz. Angesichts des Wiedererstarkens des Autoritarismus, der sich gegenüber jedem rationalen Argument als immun erweist, gewinnt eine Reflexion über die affektiven Grundlagen der Vernunft zunehmend an Dringlichkeit. Zusätzlich wirft die sich vollziehende ökologische Katastrophe erneut die Frage auf, ob der »Logozentrismus« der westlichen Aufklärung nicht auf ein grundlegend verfehltes Naturverhältnis verweist, das für das »Andere der Vernunft« keine angemessene Sprache zu finden scheint.

Die Tagung bezweckt vor diesem Hintergrund, das Verhältnis Kritischer Theorie und französischer Philosophie nochmals genauer zu befragen. Als Orientierung für einen möglichen Vortrag können folgende Themenschwerpunkte dienen, die von exemplarischen Fragestellungen begleitet sind:

1. Vernunftkritik als Kritik am identifizierenden Denken

Der Rationalismus findet seine vielleicht avancierteste Ausprägung in Hegels idealistischem System und seiner damit verbundenen universellen Geschichtsphilosophie. Dieses strebt eine umfassende begriffliche Durchdringung der Welt an und ist von der Annahme beseelt, dass es »nichts gibt, weder im Himmel noch in der Natur noch im Geiste«, was sich letztlich dem Systemdenken entziehen könnte. Vernunftkritik im Anschluss an Adornos »Negative Dialektik« oder des »verallgemeinerten Antihegelianismus« (Deleuze) des französischen Denkens der 1960er Jahre impliziert daher eine ausführliche Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik und deren totalisierenden Tendenzen. Beide Denker nehmen diese zum Anlass einer grundsätzlichen Reflexion über die Grenzen der begrifflichen Erkenntnis und des philosophischen Systemdenkens. Wo berühren sie sich, wo differieren sie? Wie konstituiert sich auf diesem Wege jeweils ein eigenes Verständnis der philosophischen Arbeit und ihrer kritischen Potenziale? Welche geschichtsphilosophischen Implikationen ergeben sich aus jener sukzessiven Abkehr von der Systemphilosophie? Wie verhalten sich Kritik und Solidarität zur Metaphysik zueinander im »Augenblick ihres Sturzes« (Adorno)?

2. Darstellungsformen der Philosophie / Verhältnis von Kunst und Philosophie

Aufgrund der Sensibilität für die Grenzen begrifflicher Erkenntnis zeichnet sich das Denken der Kritischen Theoretiker durch eine hohe Experimentierfreude bezüglich ihrer Darstellungsformen aus. Diese reichen von Aphorismen, insbesondere in der »Minima Moralia«, über Essays bis hin zu Fragmenten, wie sie beispielsweise in der »Dialektik der Aufklärung« zu finden sind. Ähnliche Versuche finden sich auch bei Jacques Derrida, Jean-François Lyotard oder Roland Barthes. Worin liegen ihre Unterschiede? Wie gestaltet sich prinzipiell das Verhältnis von Kunst und Philosophie – etwa in der Form einer «fragmentarischen» Kritik an sozialen Verhältnissen oder in Bezug auf spezifische Kunstformen wie z.B. lyrische Dichtung und Malerei?

3. Gemeinsame Frühgeschichte der Kritischen Theorie und des Poststrukturalismus

Die frühe Kritische Theorie setzte sich intensiv mit vernunftkritischen Ansätzen französischer Provenienz auseinander. Hierbei gewannen unter anderem Henri Bergsons Lebensphilosophie und die Ansätze aus dem Umfeld des Collège de Sociologie (Bataille, Caillois, Leiris) besondere Bedeutung. Das Collège wurde maßgeblich durch die Ethnologie in der Nachfolge von Émile Durkheim sowie den Surrealismus beeinflusst. Das Denken Walter Benjamins nahm dabei eine Schlüsselposition als Vermittler ein, da dieser zu jener Zeit in Paris verweilte. Bataille und Bergson waren wiederum wichtige Wegbereiter des Poststrukturalismus: So inspirierte Batailles Philosophie des Heterogenen Foucaults Kritik an Normierungen, während Bergsons Vitalismus für Deleuzes gesamtes Denken prägend war. Die grundlegende Aufklärungskritik des Collège de Sociologie weist viele Gemeinsamkeiten mit der Kritischen Theorie auf, sieht sich jedoch zugleich dem Vorwurf des Irrationalismus ausgesetzt. Wie lässt sich diese scheinbare Ambivalenz erklären? Worin unterscheidet sich die Pariser und die Frankfurter Rezeption des Collège de Sociologie, Bergsons oder des Surrealismus?

4. Verhältnis von Historischem Materialismus und Psychoanalyse

Die Kritische Theorie suchte eine theoretische Antwort auf die ausgebliebenen Revolution nach 1918 sowie den Nationalsozialismus zu finden, indem sie sich auf die Natur- und Triebgrundlage der Gesellschaft besann. Die französische Philosophie vertiefte sich – von Lacan und der Merleau-Pontyschen Leibphilosophie angeregt – ab den späten 1950er Jahren in die Freud’sche Psychoanalyse. Besonders Deleuze/Guattari und Lyotard suchten unter dem Eindruck der Maiunruhen 1968 ebenfalls eine Konfrontation von Freud und Marx. Wie lassen sich diese unterschiedlichen Rezeptionen der Psychoanalyse für Überlegungen zur Materialität des gesellschaftlichen Lebens ins Gespräch bringen?

Die Tagung findet vom 4. bis zum 6. Oktober 2024 an der Universität Hildesheim statt. Bei Interesse senden Sie uns gerne ein Abstract von maximal 500 Wörtern für einen ca. zwanzigminütigen Vortrag sowie eine kurze bibliographische Angabe bis einschließlich 18. März an tagung.kritischesdenken@gmail.com. Die Benachrichtigung über die Annahme der Beiträge erfolgt bis Mitte April. Wir werden für die Tagung eine Förderung beantragen, mit der wir Reise- und Unterkunftskosten sowie Verpflegung finanzieren wollen.

Kontakt

tagung.kritischesdenken@gmail.com

https://www.uni-hildesheim.de/media/fb2/philosophie/Aktuelles/CfP_Kritische_Theorie_aus_Paris_und_Frankfurt.pdf
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Sprach(en) der Veranstaltung
Deutsch
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